Ein Netzwerk entsteht: Der Dachverband Lesben und Alter
Lobby für ältere und alte lesbisch lebende Frauen
Wie wollen wir leben, wenn wir alt sind?
Lesben gehörten zu den ersten in der queeren Community, die sich damit befassten, wie sie ihr Leben im Alter aktiv gestalten wollen. Bereits auf dem Lesbenfrühlingstreffen 1983 (damals Lesbenpfingsttreffen) tauschten sich etwa 30 Aktivistinnen darüber aus und vernetzten sich. 1986 entstand daraus der bundesweite Verein Selbsthilfe alleinlebender Frauen im Alter, seit 2000 „SAFIA – Lesben gestalten ihr Alter“. In Hamburg näherten sich Lesben dem Altersthema zusätzlich auf fachlicher Ebene an. 2002 entstand dort der Facharbeitskreis „anders altern“, in dem Lesben gemeinsam Positionen erarbeiteten und sich an Fachtagungen zum Thema Alter beteiligten.
Lesben und Alter – Ein bundesweites Netzwerk entsteht
Im April 2004 wurde schließlich die Mailingliste „lesben.altern“ ins Leben gerufen, als bundesweiter Austausch für Fachfrauen und Multiplikatorinnen. Schnell kam die Idee auf, sich nicht nur auf virtueller, sondern auch auf persönlicher Ebene zu vernetzen. Die Aktivistinnen organisierten noch im selben Jahr die erste bundesweite Fachtagung „Lesben und Alter“. Über 40 Lesben aus zehn Bundesländern trafen in Hamburg zusammen und diskutierten Themen wie Wohnen, Rente, Altersarmut, Soziale Teilhabe und deren spezifische Bedeutung für ältere lesbische Frauen. Von nun an fanden regelmäßig bundesweite Fachtagungen zum Thema „Lesben und Alter“ statt. Der Grundstein für ein einzigartiges Netzwerk aus engagierten, fachlich versierten Frauen war gelegt.
Vom Netzwerk zum Dachverband Lesben und Alter
Innerhalb weniger Jahre entstand aus dem zunächst losen Netzwerk ein professioneller Dachverband. 44 Teilnehmerinnen beschlossen auf der fünften Fachtagung in Charlottenberg 2009 die Gründung eines bundesweiten Verbands. Seitdem agiert der Dachverband Lesben und Alter auf unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Ebenen mit dem Ziel, die Interessen von älteren und alten Lesben zu vertreten sowie in Senior*inneneinrichtungen und -Verbände hineinzuwirken.
Seit der Gründung im Jahr 2009 ist vieles passiert: die Akteurinnen verlagerten den Dachverband dauerhaft in die Bundeshauptstadt, sie erhalten seit 2015 finanzielle Förderung durch das BMFSFJ, konnten erste Stellen schaffen und gingen wichtige Kooperationen, Partner- und Mitgliedschaften ein, wie u.a. mit der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen und dem Paritätischen Gesamtverband.
Wichtige politische Forderungen des Dachverbands
In Deutschland leben schätzungsweise mehr als eine halbe Million lesbische Frauen, die 65 Jahre und älter sind. In der Gesellschaft bleiben ältere Lesben jedoch häufig unsichtbar und das gleich im dreifachen Sinne: als Frau, als Ältere und als Lesbe. Daher macht sich der Dachverband Lesben und Alter für diese Gruppe stark, indem er zentrale Themen wie u. a. Alterssicherung, Rentenpolitik, Pflege sowie alternative Wohnkonzepte politisch vorantreibt.
Altersarmut – Ein lesbisches Thema?
Insbesondere ältere und alte Frauen sind in Deutschland zunehmend von Armut bedroht. Die frauenfeindliche Familien- und Arbeitsmarktpolitik der frühen Bundesrepublik macht sich bis heute in westdeutschen weiblichen Lebensläufen bemerkbar. Der Gender Pay Gap von 20 Prozent verdoppelt sich im Alter zu einem Gender Pension Gap von über 40 Prozent. Ausgerechnet viele derjenigen, die in der Lesben- und Frauenbewegung den gleichstellungspolitischen und gesellschaftlichen Wandel vorangetrieben haben, leben heute häufig am oder unter dem Existenzminimum. Aus diesen Gründen fordert der Dachverband Lesben und Alter eine Rentenreform, die die Erwerbsbiographien lesbischer Frauen berücksichtigt. Die Alterssicherung muss für alle zum Leben reichen. Die Grundrente darf nicht nur diejenigen berücksichtigen, die mindestens 35 Jahre ins Sozialversicherungssystem eingezahlt haben.
Lesbensensible Pflege
Würdevolle Pflege bei Krankheit und im Alter setzt voraus, dass auch nicht-heterosexuelle Lebensrealitäten anerkannt werden. Gabi Stummer, promovierte Pflegewissenschaftlerin und eine Zeit lang Sprecherin des Dachverbands Lesben und Alter, erarbeitete in ihrer 2015 veröffentlichten Handreichung „Kultursensible Pflege für Lesben und Schwule“ Kriterien für die professionelle Pflege. Einiges ist inzwischen auf den Weg gebracht. Erste Pflegeeinrichtungen lassen sich z. B. mit Qualitätssiegeln wie „Lebensort Vielfalt“ zertifizieren. Handreichungen und Pflegekonzepte für Aus- und Fortbildung werden geschrieben. Bis es jedoch zum Standard gehört, Pflegepersonal für alternative Lebens- und Liebensformen zu sensibilisieren und spezifisch lesbische Lebenserfahrungen und Biographien als gleichwertig zu berücksichtigen, bleibt das Thema Diversität in der Pflege weit oben auf der politischen Agenda des Dachverbandes.
Wohnen im Alter
Bezahlbarer Wohnraum und Möglichkeiten gemeinschaftlichen Wohnens sind weitere, für ältere Lesben bedeutsame Themen. In verschiedenen Städten und Regionen Deutschlands wird die Idee vom gemeinschaftlichen Wohnen und Leben im Alter oder zwischen den Generationen bereits umgesetzt. Andere kämpfen seit vielen Jahren dafür, ihre Konzepte endlich zu realisieren. Zu den zentralen Aspekten von bestehenden und künftigen Projekten gehören generationsübergreifende Kontakte, barrierearme Architektur und eine ökologische Bau- und Wirtschaftsweise mit dem Ziel eigenständig und vielfältig in einer Gemeinschaft zu leben – bezahlbar und nachhaltig. Der Dachverband Lesben und Alter unterstützt entsprechende Vorhaben mit politischen Forderungen.
Die deutschlandweit einzige Interessenvertretung für Lesben im Alter
Analog zur Gesamtgesellschaft stellt auch innerhalb der LGBTIQ*-Community das Thema Altern ein Randthema dar. Bis heute ist der Dachverband die deutschlandweit einzige Interessenvertretung, die sich ausschließlich dem Themenfeld „Lesben und Alter“ annimmt und älteren lesbischen/frauenliebenden Frauen eine Stimme gibt. Ob Fachgespräche mit der Politik, die Einladung zu offenen Runden im Ministerium, CSD Empfänge, Workshops, Fachtagungen und -veranstaltungen – jede einzelne Mitwirkung im öffentlichen Diskurs ist ein wichtiger Meilenstein für mehr Sichtbarkeit von Lesben im Alter. Nach und nach werden die Bedürfnisse und Interessen älterer und alter Lesben stärker wahrgenommen und thematisiert. Ein Erfolg, der nur durch die Unterstützung der vielen engagierten Frauen und Organisationen, die die Arbeit des Dachverbands weiter vorantreiben, ermöglicht wird.